Von Jörg Philipp, www-todovino.de
Wer in Spanien um den Jahreswechsel im Supermarkt unterwegs ist, wird sich in der Abteilung für Dosenobst verwundert die Augen reiben. Dort tummeln sich in den Regalen kleine Dosen mit exakt zwölf Trauben Inhalt. Zwölf Trauben sind auf den ersten Blick immerhin ein Dutzend, auf den zweiten Blick fehlt da die Sahne oder eine Creme, um einen vollwertigen Nachtisch abzugeben. Also was soll diese minimalistische Ausgabe an Obst in einer Dose? Jeden Monat eine Traube als kleinen Vitamin Boost scheint auch nicht die Lösung des Rätsels zu sein.
Trauben essen ist in Spanien eine beliebte Silvester-Tradition
Gegen Ende des Jahres, also zu Silvester, nähert man sich dem Sinn dieser Traubenzahl. Zum Jahreswechsel wird in den spanischen Familien eine Tradition gepflegt. Vor Mitternacht werden zwölf Trauben für jedes Familienmitglied oder für jeden Anwesenden vorbereitet. Sobald sich Mitternacht nähert, steigt die Spannung und man nimmt sich sein Behältnis mit den zwölf wartenden Obstvertretern. Und dann geht es unversehens los. Bei jedem Glockenschlag zum Jahreswechsel schieben sich alle Versammelten jeweils eine Traube in den Mund. Wer die Größe von Moscatel Beeren kennt und die Geschwindigkeit, in der die Abfolge der zwölf Glockenschläge erfolgt, denkt unweigerlich an einen Hamster nach erfolgreicher Nusssuche.
Und genau so läuft das ab. Jeder sitzt mit vollem Mund da und versucht die Trauben im Takt der Glocke in den Mund zu bekommen. Zusätzliche Spannung ergibt sich dadurch, dass die Beteiligten versuchen, die anderen zum Lachen zu bringen. Somit bitte vorstellen, dass jede Menge Personen in einem Raum sind, sich im Sekundentakt Trauben in den Mund schieben und beim Beobachten der anderen verzweifelt versuchen nicht zu lachen. Meistens mit wenig Erfolg, da immer jemand die Kontrolle über Mundinhalt verliert und losprustet. Den Rest kann man sich denken und die notwendige Reinigungsaktion im Anschluss ist ebenfalls sehr kommunikativ.
Zu Silvester in Spanien müssen es Moscatel-Trauben sein
Woher kommen diese Moscatel Trauben, mit denen die Spanier dieses Ritual zu Silvester alljährlich zelebrieren und wieso isst man nicht eine der anderen Traubensorten Spaniens, von denen es jede Menge gibt?
Die meisten Moscatel Trauben für dieses Ritual kommen aus Alicante. Die Stadt hatte immer einen guten Ruf in Spanien. Natürlich gibt es auch Moscatel in Malaga, aus denen gerne Rosinen für die hochwertige Küche hergestellt werden. Versuchen wir dem Ritual auf den Grund zu gehen und gehen zurück in der Geschichte. Vor 1900 scheint diese Tradition nicht zu existieren. Also ist dieses Spielchen zu Silvester doch nicht so alt? Am häufigsten taucht bei der Recherche die Behauptung auf, dass Weinbauern aus Alicante diesen Brauch ins Leben gerufen haben. Die Nachfrage nach Moscatel ließ 1909 anscheinend derart nach, dass man eine Lösung suchte, um der Masse an Trauben eine neue Bestimmung zu geben. Die meisten Produzenten wussten angeblich nicht mehr, was sie mit den vielen Trauben machen sollten und findige Obstbauern kamen darauf, den Trauben eine neue Bedeutung zu geben. Der Verzehr einer Beere bei jedem Glockenschlag zum Jahreswechsel sollte nach der Verlautbarung der Produzenten Glück im nächsten Jahr bringen. Gesagt, getan! Die Information wurde verbreitet und stieß bei vielen Familien auf Resonanz. Jeder war auf der Suche nach Glück, Trauben gab es in Hülle und Fülle und so kam das eine zum anderen.
Seitdem gibt es in Spanien das Ritual, an Silvester Trauben zu essen und sich die zwölf Glockenschläge zum Jahreswechsel mit Moscatel Beeren zu versüßen – natürlich aus Alicante.
Weitere Weintipps und Geschichten rund um das schönste Getränk der Welt bekommst du hier: www.todovino.de
Jörg Philipp ist Mitgründer von TodoVino. Das Weinmagazin hat sich voll und ganz der Vielfalt Spaniens verschrieben und beleuchtet den Wein und die Landschaften aus verschiedenen Blickwinkeln.